Stift Zwettl zwischen Sage und Wirklichkeit

Graf Hadmar von Kuenring, Herr über den Ort Zwettl und alles Land ringsum, war ein frommer Mann. Er hatte mit seinen Knechten den finsteren Nordwald gerodet und wollte nun für das neugewonnene Land einen geistigen Mittelpunkt, ein Kloster.
Er begab sich daher in das Stift Heiligenkreuz und bat den dortigen Abt Gottschalk, ihm einige Mönche für das zu gründende Kloster zu schicken. Die Zisterzienser, die dort in Heiligenkreuz ihr Kloster haben, waren nicht nur fromme Mönche und gute Lehrer, sondern sie verstanden sich auch auf die Landwirtschaft.
Abt Gottschalk ließ daraufhin alle Ordensbrüder im Kapitel- saal zusammenkommen. Dann stellte er ihnen Graf Hadmar vor und sagte: „Meine Brüder, dieser edle Herr will oben im Nordwald ein Kloster gründen, es mit allem ausstatten und reichlich beschenken. Wir wollen seiner Bitte willfahren und einige von euch mögen mit ihm ziehen. Wer also gewillt ist, mit Graf Hadmar in den Nordwald zu gehen, der möge es sich bald wohl überlegen und mir dann Bescheid geben.“
Nach kurzer Beratung erklärten sich einige Mönche bereit, mit dem Grafen in den Nordwald zu wandern. Den Mitbruder Hermann wählten sie zu ihrem Führer und zum ersten Abt des neuen Klosters.
In Oberhof bei Zwettl ließ Graf Hadmar für die Mönche ein Lager errichten. Hier wohnten sie einstweilen in einfachen Holzhütten. Auch ein kleines hölzernes Kirchlein wurde aufgestellt. Graf Hadmar und Abt Hermann waren sich nämlich noch nicht über den Platz, auf dem das Kloster erbaut werden sollte, einig geworden. So vergingen mehrere Monate und man hatte noch immer nicht mit der Arbeit begonnen. Sowohl der Graf als auch Abt Hermann wußten, daß die Wahl des Bauplatzes auf lange Zeit, vielleicht sogar auf Jahrhunderte hinaus, für das ganze Klostergeschehen bestimmend sein würde.
Die schönen Sommertage gingen vorüber, der Herbst zog ins Land und im Waldviertel wurde es bitter kalt. An den Beginn der Bauarbeiten war in diesem Jahr nicht mehr zu denken. Die Mönche hatten ihre Hütten in Oberhof so gut ausgestattet, daß sie mühelos den Winter überstehen konnten. Graf Hadmar verließ die Ordensbrüder auf kurze Zeit und begab sich auf eine seiner Grenzburgen.
Der Winter kam und mit ihm das Weihnachtsfest. Hadmar war wieder nach Oberhof gekommen, um die Festtage bei seinen Mönchen zu verbringen. Das alte Jahr war müde geworden und die letzte Nacht im Jahr kam heran, es war Silvester.
Graf Hadmar ging in seinem Zimmer unruhig auf und ab. Er konnte keinen Schlummer finden und beschloß, auf das neue Jahr zu warten. Er setzte sich in einen Armstuhl nahe beim Fenster und sah in die dunkle, kalte Winternacht hinaus. Wieder war es der Klosterbau, der seine Gedanken bewegte.
Aber, was war das plötzlich? Ein Kreis erhabener, leuchtender Gestalten umgab auf einmal den Grafen, alle strömten Licht und Wärme aus und priesen mit himmlischen Gesängen den Schöpfer. War es Wirklichkeit oder war Graf Hadmar sanft ein- geschlummert und umfingen ihn Träume?
Mitten aus dem Kreis dieser Lichtgestalten trat plötzlich die Gottesmutter, gerade vor den Grafen hin. Herrlich war sie anzuschauen. Hadmar sah sie voll tiefgläubiger Demut an. Maria aber gab ihm den Auftrag, er möge in den Wald reiten. Mitten in Schnee und Eis werde er eine grünende Eiche finden, voll frischer Triebe und Blüten, deren Zweige an der Spitze so verschlungen seien, daß sie gleichsam ein Kreuz bildeten. Dies sei der richtige Ort für die Erbauung des Stiftes und Hadmar solle nicht verabsäumen, damit bald zu beginnen.
Gleich darauf erwachte der Graf. Er wußte, daß es ein Traum war, war aber überzeugt, Gott hätte ihm diesen geschickt.
Einige Stunden später kam Abt Hermann. Hadmar hatte ihn rufen lassen. Er erzählte ihm seinen Traum. Daraufhin rief Abt Hermann frohlockend aus: „0, Herr Graf, laßt uns eilends diesem Fingerzeig Gottes folgen, auch ich hatte in der vergangenen Nacht den gleichen Traum!“
Am nächsten Morgen ritten die beiden aus. Sie sprachen nur wenig miteinander, achteten aber umsomehr auf die Gegend. Sie waren von der Wahrheit des Traumes fest überzeugt und glaubten, wenn sie sorgsam genug suchen würden, so würden sie sicher die blühende Eiche finden.
Aber der Tag ging seinem Ende zu, die Dämmerung begann, immer noch hatten sie kein grünes Hälmchen, geschweige denn einen grünenden Baum, gesehen. Oberall waren nur Schnee, Eis und bittere Kälte. Sie hielten ihre müden und keuchenden Pferde an und beratschlagten, was nun zu tun sei. Einerseits wollten sie die Suche nicht aufgeben, waren sie doch immer noch voll Hoffnung, anderseits brach bald die Nacht herein.
Schon wollten sie schweren Herzens den Rückweg beginnen, als der Abt voll Freude ausrief: „Seht, Herr Graf, die Eiche!“ Es war wie ein Wunder. Mitten auf einer schneebedeckten Waldlichtung stand eine kraftvolle Eiche, die blühte, ihr Wipfel war in Kreuzesform verschlungen. Der Graf und der Abt stiegen nun von den Pferden, knieten nieder, priesen und dankten Gott.
Bald wurde mit dem Bau des Stiftes begonnen. Nachfolger Hadmars und Hermanns haben im Laufe der Jahrhunderte viel zur weiteren Ausgestaltung des Klosters beigetragen und so ist Stift Zwettl heute als Stätte der Wissenschaft und Kunst weithin bekannt.

Quelle: Waldviertler Heimatbuch, Helmut Sauer, Verlag Josef Leutgeb, Zwettl, 2. Auflage 1977, Band I
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