Frau Gaude zu Drosendorf

Nacht liegt über Drosendorf. Dunkel und still stehen die alten Bürgerhäuser dieser Stadt. Nur aus wenigen leuchtet Kerzen- oder Lampenschein. Träge ziehen die Nebel vom Thayatal herauf und vermischen sich mit dem Rauch aus den Schornsteinen, zerflattern über den Zinnen der Stadtmauer und kriechen durch die Schießscharten der alten Burg. Vom Raabsertor her erklingt der Gesang des Nachtwächters:

„Alle meine Herren laßt Euch sagen,
der Hammer, der hat neune g‘schlag‘n!
Die finstere Nacht, die bricht herein,
Gott wird uns allen gnädig sein!
Is das Madel groß oder klein,
schür das Feuer fein fleißig ein
und schür es ein mit großem Fleiß,
Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist!
Und rufet alle Heiligen an,
den heiligen St. Florian,
daß er uns beschütz vor Feuersflamm‘.
Alle meine Herrn, um was ich Euch bitt,
vergeßt‘s auf die armen Seelen im Fegfeuer nit,
und halt‘s mein Wort für keinen Spott,
a glückselige Nacht, die geb Euch Gott!
Schlafts ein in Gottes Namen,
‘s hat neune g‘schlag‘n! Amen.“

Schritte klingen auf, sie klappern auf dem Steinpflaster. Zwei Männer, in dunkle Mäntel gehüllt, in der Hand die Laterne, gehen vom Gasthaus heimwärts. Handeisherren sind es, die in der Altstadt ihre Kaufhäuser haben. Leise, als ob jemand zuhören würde, plaudern sie mitsammen.
„Das ist heute wieder eine Nacht“, sagte der eine, „direkt Angst könnte man bekommen.“ „Du denkst wohl an die Frau Gaude“, meint der andere, „man hat schon längere Zeit nichts mehr von ihr gehört.“ „Ob sie wohl noch immer nachts durch die Gassen der Stadt schleicht und Leute sucht, die in der Nacht arbeiten?“ „Ja, das mag sie gar nicht, wenn nachts oder an Feiertagen gearbeitet wird.“ „Besonders abgesehen hat sie es auf alle, die Flachs spinnen, warum wohl?“ „Du hast recht, so erzählt man. Also ich möchte nicht von ihr nachts oder an Feiertagen beim Flachsspinnen erwischt werden!“
Eine Weile tappen die beiden still dahin, dann sagt der eine: „Man erzählt, sie könne den Leuten vielerlei Böses tun. Muß doch eine Hexe sein!“ „Ja“, meint der andere, „ich habe gehört, sie könne Krankheiten ins Haus bringen, das Vieh verhexen, Feuer ins Haus zaubern und anderes mehr!“ „Sie soll auch kleine Kinder mitnehmen“, flüstert der erste und sieht sich scheu um.
Mittlerweile erreichen sie ihre Häuser. Ein kräftiger Händedruck noch und sie verschwinden hinter den Toren. Dunkel ist es wieder auf der Straße, von weiter oben ertönt noch einmal der Gesang des Nachtwächters.
Da schlürft es auf steilem Weg vom Thayatal herauf. Wie ein dunkler Schatten, scheinbar im Nebel zerfließend und dann wieder da, erreicht die Stadtmauer, das Stadttor und ist auf einmal wie durch Zauberhand in der Stadt. Nichts hat er bemerkt, der Stadtwächter, der im Torhäuschen sitzt, einen Krug Wein neben sich, und der zweite Wächter, der am Tor lehnt, die Lanze in der Hand.
Weiter schlürft es schattenhaft an den Häusern entlang, scheint sich allmählich zu einer Gestalt zu verdichten, ein altes Weiblein, krumm, klein, zwergenhaft, einen Stock in der Hand, so zieht es von Haus zu Haus, horcht an den Fenstern, kichert vor sich hin, murmelt Unverständliches.
Plötzlich steht es still, reckt sich zornig empor und droht mit dem Stock. „Schon wieder eine, die nicht genug bekommen kann. Sogar in der Nacht und an Feiertagen arbeiten sie, nur Geld, Geld, Geld! Weiß sie denn nicht, daß man den Flachs nur am Tag spinnen soll, nachts bringt es Unglück! Na, warte!“
In dem Haus, vor dem sie steht, brennt Licht. Eine dicke Kerze erhellt die Kammer. Eine Frau sitzt beim Spinnrad und läßt das Rädchen lustig schnurren. Ein dicker Ball gesponnener Flachs liegt vor ihr auf dem Boden, die Arbeit des ganzen Tages. Gedanken gehen der Frau durch den Kopf. Wie erzählen die Leute, man soll nachts nicht spinnen! Unsinn! Frau Gaude liebt es nicht! Wer ist das schon? Was interessiert mich diese! Wenn ich die Nacht durcharbeite, dann kann ich mir mit dem Gesponnenen ein tüchtiges Stück Geld verdienen! Halt, was ist das? Rüttelt wer an der Tür? Die Frau hält ein und lauscht. Es scheint etwas durchs Haus zu gehen. Angst überkommt sie, das Tappen von Schritten kommt näher, die Tür öffnet sich.
„Alle guten Geister steht mir bei !“ murmelt die Frau, als sie das erblickt, was bei der Tür hereinkommt. Eine kleine, hässliche Alte ist‘s, ein Zwergel, Frau Gaude!
„Ei, ei, so eifrig beim Spinnrad“, fragt die Alte, „rück zur Seite, laß dir helfen!“ Angstvoll rückt die Frau zur Seite. Die Alte nimmt beim Spinnrad Platz. Es ist kaum zu glauben, nun geht ein Spinnen los, daß einem angst und bange werden könnte. Dazu kichert und brummt die Alte und läßt das Rädchen so schnell schnurren, daß der Flachsvorrat bald zu Ende ist.
„Nun ist die Arbeit vorbei, hole etwas zu essen“ befiehlt sie der geängstigten Frau und betrachtet sie böse schielend aus triefenden Augen. Schnell stürzt diese aus dem Zimmer. Bevor sie in die Speisekammer geht, läuft sie schnell zur Nachbarin. Diese ist eine hochbetagte Frau, von der man sagt, sie wüßte für alles und jedes Hilfe. „Gut“, sagt diese, „ich komme mit, ich glaube, ich kann dich von der Frau Gaude befreien!“
Sie eilen zur Speisekammer, suchen Brot, Gebratenes und ein gutes Glas Wein zusammen und gehen zum Zimmer zurück.
Erstaunt sieht die Alte, daß zwei Personen bei der Tür hereinkommen, dann zuckt sie mit den Achseln und macht sich über die Jause her.
Da sagt die Nachbarin: „Frau Gaude, Frau Gaude, der Hetscherlberg brennt!“ Kaum hat sie dieses Sprüchlein gesagt, da springt das alte Weiblein auf, rennt zur Tür und ruft: „0 weh, da verbrennen ja meine Kinder!“ Sie läuft den Gang entlang und springt bei der Tür hinaus. Schnell nimmt die Nachbarin die Ofengabel, den Schürhaken und die Ofenschüssel und stellt diese drei Dinge vor das Haustor, das sie schließt und fest verriegelt.
Kaum ist das geschehen, da kommt Frau Gaude zurück und begehrt zornig Einlaß. Heftig schlägt sie mit ihrem Stock an das Tor. Doch die beiden Frauen in der Spinnstube rühren sich nicht. Da ruft Frau Gaude zuerst die Ofengabel, dann den Schürhaken und zum Schluß die Ofenschüssel um Beistand an. „Helft mir die Tür zu öffnen, ihr habt mir auch zuvor geholfen!“ Doch die drei können ihr nicht helfen, sie sind ja selber ausgesperrt.
Als alles nichts nützt, da stößt die alte einen fürchterlichen Fluch aus und ruft: „Diesmal bist du mir noch entgangen, aber hüte dich, noch einmal zur Unzeit zu spinnen!“ Daraufhin entfernt sie sich polternd.
Nacht liegt über Drosendorf. Dunkel und still stehen die alten Bürgerhäuser dieser Stadt. Die Lichter in ihnen sind erloschen. Träge ziehen die Nebel vom Thayatal herauf und vermischen sich mit dem Rauch aus den Schornsteinen, zerflattern über den Zinnen der Stadtmauer und kriechen durch die Schießscharten der alten Burg. Laut erklingt das Lied des Nachtwächters:

„Alle meine Herren laßt Euch sagen,
der Hammer, der hat drei geschlagen,
Hausdirn, steh auf, es ist schon Zeit,
die Vöglein singen auf grüner Heid,
der Fuhrmann auf den Straßen;
Gott wird ihn nicht verlassen.
Alle meine Herren seid munter und wach!
Der Tag vertreibt die finstere Nacht.
Der Tag kommt herein,
Gott wird uns allen gnädig sein.
Hat drei geschlagen.
Gelobt sei Jesus Christus.“

Die Nacht, in der er sang, war die Johannisnacht des Jahres 1874. Frau Gaude ist aus der Stadt verschwunden. Man hat sie nie mehr gesehen.

(Die Lieder des Nachtwächters stammen aus: „Das Waldviertel“, Band 3,
Volkskunde, Eigentümer, Herausgeber und verantwortlicher Schriftleiter
Dr. Eduard Stepan, erschienen in der Buchdruckerei Tyrolia AG., Wien 7.,
Neubaugasse 12-14.)

Quelle: Waldviertler Heimatbuch, Helmut Sauer, Verlag Josef Leutgeb, Zwettl, 2. Auflage 1977, Band I
ISBN ohne Nummer

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