DIE VERSCHWUNDENE FRAU

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten einander sehr lieb. Der Mann hätte die Frau für nichts in der Welt hergegeben, und die Frau tat alles ihm zu Gefallen. So führten sie ein inniges Zusammenleben wie zwei Körner in der gleichen Ähre.
Einmal hatte der Mann auf seinem Acker zu arbeiten und die Frau im Hause. Er konnte den Abend kaum erwarten, um zu ihr zurückzukommen. Aber als er in der Dämmerung heimkam, was war das? Die Frau war verschwunden. Er rief nach ihr, er suchte sie, er weinte, aber die Frau blieb verschwunden. Der arme Mann war ganz und gar gebrochen. Nach einigen Tagen konnte er es daheim nicht mehr aushalten und so ging er in die Welt, die Frau zu suchen.
Wohin sollte er sich zuerst wenden? Er ging, wohin ihn die Füße trugen. So kam er zu einer Hütte, die am Ufer eines Sees stand. Hier könnte ich ein wenig ruhen, dachte er und trat in die Hütte ein.
Aber die Frau, die in der Hütte hauste, wollte ihn gleiche wieder fortschicken. „Du wirst um dein Leben kommen, wenn mein Mann dich erblickt“, warnte sie.
„Wer ist denn dein Mann?“ fragte der Wanderer.
„Das weißt du nicht? Er ist der König der Wässer; alles ist ihm untertan, was naß ist, und die Menschen tötet er gerne.“
„Erbarme dich“, bat der Mann, „versteck mich irgendwo, ich bin so müde, ich kann keinen Schritt mehr gehen.“
Die Frau hatte Mitleid und versteckte ihn hinterm Herd.
Bald darauf kam der König des Wassers. Schon die der Tür rief er: „Weib, hier ist ein Mensch.“
Es wäre zwecklos gewesen, zu leugnen. Ob sie wollte oder nicht, sie mußte den armen Mann hervorholen.
„Ich habe nichts Böses getan“, beteuerte der Mann, „ich will nur meine verschwundene Frau suchen, weil ich ohne sie nicht leben kann.“
„Wenn du so ein braver Ehemann bist, so will ich dir nichts tun“, sagte der Wasserkönig, „aber von deiner Frau weiß ich nichts. Nur einige Enten sah ich unlängst auf dem Wasser schwimmen. Vielleicht war deine Frau unter ihnen. Geh zu meinem Bruder, dem König des Feuers; vielleicht weiß der mehr.“
Der arme Mann dankte dem Wasserkönig und am Morgen machte er sich auf den Weg zum König des Feuers.
Aber auch der wußte nichts von der verschwundenen Frau und er schickte ihn weiter zu seinem Bruder, dem König der Winde.
Der blies gleich nach allen Himmelsrichtungen und in jeden versteckten Winkel und da entdeckte er eine Frau, die der verschwundenen glich; sie saß im gläsernen Berg.
Kaum hörte das der Mann, da lief er gleich den langen Weg zurück, denn seine Hütte lag unweit vom gläsernen Berg.
Als er bei dem Bach angelangt war, der dem gläsernen Berg entsprang, da sah er ein paar Enten, die sich im Wasser tummelten. Sie riefen ihm zu: „Geh nicht weiter, sonst kommst du um dein Leben.“
Er aber ließ sich nicht zurückhalten und betrat den gläsernen Berg. Sofort umringte ihn eien Horde von Hexen und Teufeln.
„Laßt mich“, sagte der Mann, „ich suche meine Frau, ich kann ohne sie nicht leben. Und hier soll sie sein.“
„Freilich ist sie hier“, schrien die Unholde, „erkenne sie unter zweihundert.“
„Das soll nicht schwer fallen, dort sehe ich sie“, rief der Mann und schon hatte er sein Weib umfangen.
Sie umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „Lieber Mann, jetzt hast du mich leicht erkennen können, wie aber wird es morgen sein? Da werden wir zweihundert einander völlig gleichen? Darum geh zum König der Zeit und frage ihn um Rat. Bist du gut, so wird er dir raten, bist du böse, wird er dich töten.“
„Schön“, sagte der Mann, „ich gehe gleich, ich fürchte mich nicht, doch sage mir, liebe Frau, warum bist du mir davongelaufen?“
„Ich bin“, sagte sie, „nicht davongelaufen. Ein Jäger hat mich an den Bach gelockt, dort hat er mich mit Wasser überschüttet. Gleichzeitig wuchsen ihm Flügel. Er begann zu flattern, und da wurden wir beide zu Enten, und ob ich wollte oder nicht, er brachte mich hierher, wo ich wieder in einen Menschen zurückverwandelt wurde. Wenn du gut bist, darf ich wieder mit dir heimgehen.“
Sie nahmen Abschied voneinander; sie ging zu den anderen Frauen zurück und er zum König der Zeit.
Das war ein alter Mann und der sprach: „Mein Enkel, schau den Frauen auf die Schuhe. Deine Frau wird am rechten Schnürschuh einen schwarzen Faden haben.“
Der erfreute Mann dankte dem Greis und eilte zu den Frauen zurück. Er fand sie erst am nächsten tag wieder. Und er hätte sein Weib nie herausfinden können, wenn er nicht den schwarzen Faden an ihrem rechten Schnürschuh erblickt hätte. Jetzt konnten ihm die Unholde sein Weib nicht mehr verwehren. Er nahm sie gleich bei der Hand und sie eilten zu ihrer Hütte und waren glücklich, daß sie wieder beisammen waren.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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