SCHURJENKA UND ATALJENKA

Ein alter Mann hatte ein altes Weib zur Frau. Die Alte stahl einmal ein kleines Mädchen, das Ataljenka hieß. Die Kleine war brav und anstellig, und darüber war die Frau sehr froh. „Schaff dir doch auch so eine Hilfe an“, riet sie ihrem Mann; und da stahl der eines Tages einen Knaben, der Schurjenka hieß. Er wollte ihn in allen möglichen Fertigkeiten unterweisen, aber aus einem Fisch kann man keinen Vogel machen. Schurjenka erlernte nichts.
Eines Morgens sagte die Alte zu ihm: „Du Dummkopf, nimm den Sack und geh in den Wald Fliegen fangen. Ist der Sack bis zum Abend nicht voll, mußt du sterben.“
Schurjenka ging in den Wald, aber er konnte nicht eine Fliege in den Sack bekommen. So setzte er sich hin und weinte.
Da kam Ataljenka mit dem Mittagessen. „Weine nicht“, tröstete sie ihn. „Ich habe dich lieb, und ich will dir helfen. Und bald hatte das flinke Mädchen den Sack mit Fliegen angefüllt.
Am nächsten Tag schickte ihn die Alte in die Mühle: „Mahle die Fliegen und bringe mir am Abend das Fliegenmehl, daß ich mir daraus einen Kuchen backe. Kommst du ohne Fliegenmehl, mußt du sterben.“
Schurjenka ging zur Mühle, aber der Müller wollte ihm nicht erlauben, die Fliegen in die Mühle zu schütten, denn er fürchtete, daß die Mühlsteine dadurch schmutzig würden. Da setzte sich Schurjenka nieder und weinte.
Ataljenka kam mit dem Mittagessen. „Weine nicht“, tröstete ihn das Mädchen. „Ich habe dich lieb, und ich will dir helfen. Setze dich dorthin und iß!“
Und während Schurjenka sein Mittagsbrot verzehrte, durfte Ataljenka die Fliegen mahlen, denn sie hatte es verstanden, den Müller so schön darum zu bitten, daß er nicht hatte nein sagen können.
Als sie fertig war, sagte sie zu Schurjenka:“ glaube nur nicht, daß du jetzt Ruhe haben wirst. Die Frau wird dich immer wieder quälen; darum wäre es das beste, wenn du auf und davon gingest.“ Aber Schurjenka wollte sich nicht von Ataljenka trennen und blieb.
Am dritten Tag befahl ihm die Alte, alle Bäume des Waldes mit den Wurzeln aus der Erde zu reißen: „Und wenn du bis zum Abend nicht fertig bist, mußt du sterben.“
Schurjenka ging in den Wald, aber es gelang ihm nicht, auch nur einen einzigen Baum mit den Wurzeln aus der Erde zu reißen. Da setzte er sich hin und weinte.
Bald darauf kam Ataljenka. „Weine nicht“, sagte sie. „Ich habe dich lieb und will dir helfen. Freilich kann ich nicht die Bäume aus der Erde reißen, aber ich will mit dir fliehen.“ Und sie liefen, was sie laufen konnten, bis es Abend wurde, und da sahen sie schon von ferne die Lichter der Stadt, in der Schurjenkas Vater wohnte.
„Warte hier!“ sagte Schurjenka zu seiner Gefährtin. „Ich gehe nur meine Eltern begrüßen und werde dich dann holen.“ „ich werde warten“, sagte Ataljenka und setzte sich auf einen Meilenstein.
Schurjenka lief nach Hause, und da war die Freude groß. Es gab ein Erzählen, ein Fragen und Antworten. Leute kamen, Männer und Frauen und schöne Mädchen, und alle wollten sie den wiedergefundenen Sohn sehen und begrüßen. Darüber vergaß er Ataljenka.
Das Mädchen wartete. Es wurde Tag, es wurde Abend, es wurde wieder Tag. Da weinte sie. „Schurjenka hat mich vergessen! Welches Leid!“ Und sie ging in die Stadt. Sie sah ihn aber nirgends. Da fragte sie nach ihm. „Mein Sohn ist in die Welt gezogen, um sich zu vergnügen“, sagte ihr Schurjenkas Vater.
Ataljenka weinte und beschloß, den Ungetreuen zu suchen. Sie machte sich auf und ging lange Zeit. Manchmal war es so heiß, daß sie glaubte, vor hitze sterben zu müssen. Manchmal war es so kalt, daß sie glaubte, erfrieren zu müssen. Sie kam durch Städte mit vielen Menschen, sie kam durch Landstriche, in denen keine lebende Seele zu sehen war. Sie begegnete manchem Mann, der sie gerne mit sich genommen hätte. Sie begegnete mancher Frau, die sie verlachte, weil sie einen Ungetreuen suchte. Aber Ataljenka ließ sich durch niemand beirren. „Ich muß ihn finden“, sagte sie. „Vielleicht braucht er meine Hilfe.“
Da kam sie einmal, es war schon spät am Abend, in einen dunklen Wald. Sie irrte lange darin umher, endlich erblickte sie in der Ferne viele kleine Lichtlein. Sie ging den Lichtern nach. Da sah sie, daß sie aus einem Hause hervorleuchteten. Es war ein großes Haus mit vielen Fenstern. Lachen und Lärmen tönte heraus.
Ataljenka wollte nähertreten, da merkte sie, daß das Haus mitten in einem Sumpf stand. Sie blieb am Rande des Morastes stehen, um sich nicht schmutzig zu machen, und schaute zu den hellen Fenstern hinauf. Geputzte Frauen sah sie und dahinter Männer, und sie schienen alle guter Dinge zu sein. Da erschrak Ataljenka sehr. Sie hatte in einem der Männer Schurjenka erkannt.
„Schurjenka!“ rief sie mit lauter Stimme.
Er hatte den Ruf gehört; er beugte sich zum Fenster hinaus, konnte sie aber in der Dunkelheit nicht erkennen.
„Schurjenka!“ rief sie. „Ich bin es, deine Ataljenka.“
Jetzt hatte er sie erblickt, und mit einem Male erinnerte er sich auch wieder an sie. Wie schämte er sich, daß er sie vergessen hatte! Er lief vors Haus, er wollte zu ihr, aber er sank im Morast ein. „Ataljenka“, wehklagte er, „ich kann nicht mehr zu dir, ich gehe im Sumpf unter.“
Da schürzte das Mädchen ihre Kleider hoch und trat mutig in den Sumpf. Und, o Wunder, sie sank nicht ein, der Sumpf trug sie. Ohne sich auch nur die Schuhe schmutzig zu machen, kam sie zu Schurjenka. Sie faßte ihn mit kräftigen Armen, hob ihn aus dem Sumpf und trug ihn mit ihren starken Armen auf den reinen Boden des Waldes. Und sie sahen, wie das Haus mit den hellen Fenstern und den lärmenden Wesen, die sich darin herumtrieben, immer tiefer in den Morast einsank.
„Du hast mich gerettet, und nie wieder will ich dich verlassen“, sagte Schurjenka. Und dabei blieb es.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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