DIE TAUJUNGFRAU

In der neunzigsten Gegend am gläsernen Meer und beim hölzernen Felsen lebte einst ein reicher Mann. Er hatte alles, was sein Herz sich wünschte, nur einen Sohn hatte er nicht. Neun Jahre flehte er darum an jedem Morgen, wenn die Sonne aufging, zu Gott. „Einen Sohn schenke mir!“ bat er und endlich wurde er erhört. Es wurde ihm ein Sohn geboren.
Das Kind war gar lieblich anzuschauen. Auf den Wangen blühten Rosen, aus den Augen strahlten Sterne, aber auf der Zunge war nur ein ewiges Weinen. Der arme Vater wartete ein ganzes Jahr lang, aber das Kind hörte nicht auf zu weinen. Kein Gesang, kein Wiegen, keine Zärtlichkeit konnte es beruhigen. Keine Arznei, kein Arzt, keine weise Frau konnte helfen. Man wartete noch ein zweites und drittes Jahr, aber das Kind weinte, weinte.
Da hatte der Vater den Einfall, so viele Boten in die Welt zu schicken, als das Jahr Monate hat. Die zwölf Boten sollten Hilfe für das Kind bringen.
Sie zogen aus, nach zwölf verschiedenen Richtungen, und der Vater wartete geduldig auf ihre Rückkehr.
Er brauchte nicht lange zu warten. Schon am neunten Tag kehrten alle zwölf zurück. Jeder kam aus einem anderen Land. Und der erste erzählte: „Ich bin nach deinem Befehl vorwärtsgeeilt und habe jeden gefragt, dem ich begegnete, was auf dem Antlitz deines Kindes hervorzaubern könnte; aber niemand wußte Rat. Da kam ich an einen Fluß. Ich trieb das Pferd an, um ihn zu durchschwimmen, da rief vom anderen Ufer ein alter Mann mit kahlem Schädel und langem grauen Bart: „Bleib stehen, wage es nicht, durch diesen Fluß zu schwimmen. Ich weiß aber sehr wohl, was du zu wissen begehrst. Auf dem Antlitz des weinenden Kindes zaubert weder Gesang, noch ärztliche Kunst, noch irgend etwas ein Lächeln hervor; aber wenn dein Herr dreimal nacheinander diese Worte zu dem Kinde sagt: Weine nicht, mein Sohn, ich gebe dir eine Frau, vom Tau her und Tochter von neun Müttern, dann wird das Kind aufhören zu weinen.“ Genau das sagte der Alte.
Als der erste Bote abgetreten war, kam der zweite, dann der dritte, der vierte, bis zum zwölften, und von allen hörte der reiche Mann dieselben Worte. In allen Weltrichtungen war der gleiche Fluß gewesen und der gleiche alte Mann, und die gleichen Worte hatte er gesprochen. Das erfüllte den Vater mit Staunen und mit Hoffnung. Er trat an die Wiege seines Sohnes und sprach zu ihm die Worte: „Weine nicht, mein Sohn, ich gebe dir eine Frau, vom tau her und Tochter von neun Müttern.“ Und siehe, nach dem erstenmal begann sich das Kind zu beruhigen. Nach dem zweitenmal wurde es ganz still und nach dem drittenmal lachte es den Vater an. Es lachte laut und es klang, als entlockte man silbernen Saiten liebliche Klänge. Der Vater war glücklich und hatte so viel Freude wie noch nie in seinem Leben.
Jahre vergingen. Das Kind wuchs zu einem schönen Jüngling heran: auf den Wangen Rosen, in den Augen Sterne, auf der Zunge silbernes Saitenspiel. Für den Vater aber begannen neue Sorgen. Er fühlte, daß er nicht mehr lange leben werde. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod, aber sein Sohn war noch unbeweibt. Er wünschte sich nichts sehnlicher als eine Frau für ihn. „Alt bin ich, Sohn, alt“, sagte er, „heute oder morgen kannst du mir die Augen zudrücken; aber ich würde ungern sterben, bevor ich dich verheiratet sehe. Vierundzwanzigmal schon haben dich die Winterfröste übersprungen. Schöne Mädchen gibt es genug, such dir eines aus.“
„Lieber Vater, ich habe schon lange darauf gewartet, daß Ihr davon zu sprechen beginnt. Aber Ihr wißt doch, was Ihr mir in die Wiege hinein versprochen habt: eine Frau vom tau her und Tochter von neun Müttern. Die gebt mir, denn keine andere wird jemals meine Frau werden.“
Da wurde der Vater noch trauriger. Er hatte gehofft, daß der Sohn sein Versprechen von damals längst vergessen hätte. Er redete auf ihn ein und wollte ihn überzeugen, daß es eine solche Frau nicht gäbe, aber der Sohn blieb bei seinem Wunsch. Schließlich sagte er, daß er selber in die Welt hinausziehen und nicht eher ruhen wolle, als bis er diese Frau gefunden habe. Als der Vater seine Entschlossenheit sah, rüstete er ihn zur Reise aus, wählte zwei Begleiter aus und alle drei bestiegen ihre Rösser und ritten in die Welt.
Sie ritten zwei Tage und zwei Nächte ohne Rast. Am dritten Tag kamen sie in ein bergiges Land, dort verlor sich jeder Weg. Sie irrten durch die Wälder und kamen schließlich in eine dunkle Schlucht. Steile Felsen hoben sich links und rechts in den Himmel. Da sahen sie hinter einem Felsvorsprung eine kleine hölzerne Hütte. Sie ritten hin, banden die Rosse an einen Baum und traten ein. In der Stube brannte ein Feuer, um das Feuer standen neun Töpfe mit kochendem Wasser und darin schwammen neun Menschenköpfe. Eine alte bucklige Frau stand beim Feuer und starrte in die Töpfe.
„Gebe Gott dir Glück, alte Mutter“, sagte der Jüngling.
Die Alte wendete ihm ihr verrunzeltes Gesicht zu und mit heiserer Stimme sagte sie: „Ihr werde von hier nicht mehr weggehen. Ich werde euch erwürgen.“
Die zwei Begleiter erschraken, aber der Jüngling entgegnete ohne Furcht: „Ei, so ist das nicht, alte Mutter. Sage mir lieber, wo ich die Jungfrau vom Tau her und Tochter von neun Müttern finde, denn sie muß meine Frau werden“, und der Jüngling erzählte der Alten sein Schicksal.
„Hehe“, krächzte die Alte, „ist es so, so muß ich euch euer Leben lassen. Ich weiß zwar nicht, wo die Jungfrau zu finden ist, aber da hast du eine Rute, die wird dich zum Rabenberg führen, wo meine jüngere Schwester wohnt. Vielleicht kennt sie die Taujungfrau.“
Kaum lichtete sich die Dunkelheit, da traten die drei jungen Leute die Reise zum Rabenberg an. Sie ritten zwei Tage und zwei Nächte, genau dorthin, wohin die Rute sie wies. Am dritten Tag tauchte vor ihnen ein hoher Berg auf und um den Berg wogte es wie schwarze Wolken. Je näher sie kamen, desto schwärzer wurde es. Aber als sie ganz nahe waren, lösten sich die schwarzen Wolken und von allen Seiten erscholl Rabengeschrei. Das war der Rabenberg.
Auf dem Berg stand eine hölzerne Hütte. Sie traten ein. Der Jüngling verneigte sich vor der Alten, die in der Stube stand und überbrachte ihr Grüße von der Schwester und der Rute.
„Seid willkommen“, sagte die Alte, „und du, liebe Rute, spring hinauf auf den Tellerbord, dort findest du deinen Bruder.“
Die Stube der hexe war ganz verrückt. Auf dem Herd kochte im Kessel das Wasser und neun Arme und neun Beine schwammen darin.
„Hebe, meine Händchen, hebe, meine Füßchen, kocht nur, kocht“, kicherte die Alte. „Aber sagt doch, Kinder hat meine Schwester schon die neun Köpfe fertiggekocht? Hat sie schon die Salbe daraus bereitet, mit der man sich unsichtbar machen kann? Und was führt euch zu mir?“
Da berichtete ihr der Jüngling alles, was er wußte.
„Ich kenne sie nicht, die Taujungfrau“, sagte die Alte, „aber ich glaube mich zu erinnern, daß meine jüngere Schwester einmal von ihr sprach. Geht morgen zu ihr auf den Habichtsfelsen. Meine Rute wird euch dorthin führen.“
Als der Morgen heraufdämmerte, ritten sie los. Sie ritten abermals zwei Tage und zwei Nächte, von der Rute geführt, und am dritten Tag erblickten sie den Habichtfelsen. Sie hatten ihn gleich erkannt, weil viele Habichte ihn umkreisten. Oben angekommen, stiegen sie von den Pferden und traten in die hölzerne Hütte ein.
Die Alte hieß die drei willkommen. „Hat meine Schwester schon die Arme und Beine fertiggekocht?“ fragte sie. „Hat sie schon die Salbe daraus bereitet, die einen befähigt, überallhin zu gelangen, wo man sein möchte?“
Die niedrige Stube war über und über mit Blut bespritzt. In der Mitte stand ein Herd, darin brannte ein Feuer und neun Töpfe standen darauf und in dem Wasser kochten neun Menschenherzen.
„Hehe, meine Herzchen, kocht nur, kocht“, kicherte die Hexe. „Ich werde aus euch eine Salbe kochen. Wer sich damit einreibt, in den muß sich jeder verlieben, der ihn anblickt, Ich werde zustande bringen, was noch keinem vor mir gelungen ist. Und was führt euch zu mir?“
Da erzählte der Jüngling, was er bisher erlebt hatte.
„Hehe, spring auf den Küchenbord zu deinem Bruder, liebe Rute“, sagte die Alte. Dann schaute sie den Jüngling genauer an. „Sauber bist du, sauber, schöner als der, in den sich die Taujungfrau in zwei Wochen verlieben soll. Du gefällst mir besser als er, bist mir lieber als er. Deine zwei Begleiter werden hier auf dich warten, du aber wirst morgen aufbrechen zum rosenroten Schloß; dort wohnt die Taujungfrau. Hier, nimm dieses Jagdgewehr. Damit schieße den ersten Vogel, dem du begegnest. Nimm sein Herz, zerschneide es in drei Teile und mit seinem Blut reibe dich ein. Gleich wirst du dann ein Vogel sein. Dann, mein Sohn, steigst du mit dieser Rute über Berge und Täler bis ans Fenster der Jungfrau. Sie wird dich einlassen in ihre Kammer und da wirst du wieder Mensch sein. Was du weiterhin zu tun hast, das berate mit ihr selbst.“
Am frühen Morgen flog der Jüngling als kleiner Vogel über Berge und Täler, der Rute nach bis zum rosenroten Schloß. Dort verließ ihn die Rute und er umflog alle Fenster. Erst im höchsten Turm erblickte er die Jungfrau. Sie trug ein himmelblaues Kleid, das Haar war wie Gold, das Antlitz wie Schnee, der Mund wie eine Rosenknospe. Aber aus den Augen rannen große Tränen und fielen wie Tau zur Erde nieder. Als sie den vogel erblickte, öffnete sie rasch das Fenster und ließ ihn ein. Da stand plötzlich der schöne Jüngling vor ihr: auf seinen Wangen Rosen, in den Augen Sterne, auf der Zunge silbernes Saitenspiel.
„Wie bist du hierher gekommen?“ fragte die Jungfrau, „hierher kommt doch keine lebende Seele.“
„Nun bin ich aber da“, sagte der Jüngling und erzählte der Jungfrau alles, was sich in seinem Leben bisher ereignet hatte.
„Ach“, sagte die Jungfrau, „wie bin ich jetzt glücklich. Aber ich weiß nicht, wie du mich erringen willst. Ich fürchte, du bist zu spät gekommen. Du hast mir aus deinem Leben erzählt, nun will ich dir von mir erzählen.
Ich habe einen Vater, der irrt irgendwo in der Welt umher, ohne Ruh und Rast. Dieser mein Vater hatte es sich einst geschworen, daß er nie ein Kind haben wolle. Und doch hatte er eine Frau genommen. Als diese Frau ihm ein Kind schenken sollte, verfluchte er sie, damit das Kind nicht das Licht der Welt erblicken möchte; und so tat er es dann auch mit der zweiten, der dritten, bis zur neunten Frau. Aber die neunte verwünschte ihn in ihrer Todesstunde, daß er erst dann sterben dürfe, wenn ihm die neun ums Leben gebrachten Frauen eine Tochter geboren hätten, und auch nach seinem Tode sollte er erst dann Frieden finden, wenn diese seine Tochter sich verheiratet haben würde. Hundert Jahre sind seither vergangen und mein Vater fand keinen Frieden. Er beklagte bitterlich seine Sünden nd an den neun Gräbern der neuen Frauen bat er täglich zu Gott. Auf den Gräbern blühten neun hundertblättrige Rosen. Einmal kam ihm ein Traum: Die neunte Frau steig aus dem Grab und sprach zu ihm: „Mann, Mann, du hast deine Sünden bereut, ich verzeihe dir. Neun Rosen von diesen Gräbern pflücke am Abend ab, binde sie zu einem Strauß und lege sie auf das mittelste Grab. Vom Himmel wird ein tau fallen auf den roten Rosenstrauß und aus dem Tau wird dir eine Tochter geboren werden.“ Der Vater tat, wie ihm im Traum geheißen, und so bin ich aus dem Tau geboren und Tochter von neun Müttern.
Ein teil des Fluches also ist von ihm genommen, aber Ruhe findet er erst, wenn ich mich verheirate. Er war es, der die Boten deines Vaters anredete, der ihnen befahl, mich als deine Frau zu wünschen. Nun bin ich aber schon verlobt. Eines Tages kam ein neunköpfiger Drache daher, er begehrte mich zum Weib und ich sagte ja, um meinen Vater zu erlösen. In zwei Wochen will er kommen und Hochzeit halten. Bis dahin hofft er die Liebessalbe von der Alten vom Habichtsfelsen zu bekommen, und wenn er sich damit einreibt und vor mich tritt, muß ich ihn lieben.“
„Fürchte dich nicht“, sagte der Jüngling. „Wenn es nichts anderes ist, so schaff ich rat. Die Alte vom Habichtsfelsen ist mir gewogen, sie wird m i r die Salbe geben und nicht dem Drachen.“
„Das wäre schön, wenn es so geschähe. Aber wie willst du so rasch bei ihr und wieder zurück sein? Du mußt wissen, daß man zum Habichtsfelsen zwei Wochen lang braucht.“
„Das wirst du gleich sehen“, sagte der Jüngling und verwandelte sich wieder in einen Vogel und flog zurück zum Habichtsfelsen.
Dreizehn Tage und dreizehn Nächte waren seitdem vergangen. Der Jungfrau vom rosenroten Schloß fielen immer noch Tränen wie Tautropfen aus den Augen. Der vierzehnte Tag kam, schon sah sie den Drachen auf feurigem Wagen dem Schlosse nahen. Da klopfte es ans Fenster, sie öffnete, der Vogel flog herein und verwandelte sich gleich wieder in den schönen Jüngling: auf den Wangen Rosen, in den Augen Sterne und auf der Zunge silbernes Saitenspiel.
Da wurden auch die Augen der Jungfrau strahlend und ohne Tränen und sie verliebte sich aufs neue in ihn und er in sie.
In diesem Augenblick flog die Tür auf und der Drache stürmte herein. Als er sah, daß der Jüngling vor ihm eingetroffen war, erbrach er Gift und Galle und schmolz wie Pech auseinander.
Die Jungfrau und der schöne Jüngling machten sich auf den Weg zu des Jünglings Vater. Vorerst aber gingen sie zu den neun Gräbern. Da stand der Vater der Jungfrau mit kahlem Kopf und grauem Bart.
„Geht nur, geht, Kinder , und nach mir seht euch nicht um“, sagte er. Aber sie blickten doch noch einmal zurück und da sahen sie, wie sich ein zehntes Grab öffnete und der Alte in die Grube sank, die sich von selbst schloß.
Nun setzten sie ihren Weg fort und kamen bald nach Hause zum Vater des Jünglings. Der konnte sich nicht genug reuen und rief alle Leute zusammen und es wurde eine festliche Hochzeit gehalten – die Hochzeit seines Sohnes mit der Jungfrau vom tau her und der Tochter von neun Müttern.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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