Der Prahlhans

Die Rotenturmstraße erinnert an eine starke Wehr im Norden Wiens, den Roten Turm. Vor diesem Bau hatten seinerzeit alle guten Ehemänner der Stadt eine große Scheu und wichen ihm in weitem Bogen aus. Droben im Kreuzgewölbe des Turmes hing nämlich eine aus Holz geschnitzte Speckseite mit der sonderbaren Inschrift: "Jener Mann, der sich wahrhaft vor seinem Weibe nicht fürchte, möge sie herabschlagen!

Wer aber daheim nicht der eigene Herr sei,
Der soll den Pachen lassen henken,
Ihm ist ein and'rer Kirchtag zu schenken."

Den Pachen herabzuschlagen, sah wohl leichter aus als getan, denn mit dem begehrten Ding in luftiger Höhe hatte es ein eigenes Verhängnis. Jedem der mutigen Männer, die sich daran machten, es herabzuschlagen, wurde noch seltsam mitgespielt. Der eine glitt aus, bevor er das Ziel erreichte, fiel von der Leiter und schlug sich die Nase wund; ein anderer, der die Speckseite wirklich erlangt hatte, benahm sich auf dem Heimwege so unbeholfen, daß ihn die Frauen des Hauses tüchtig auslachten und er es vorzog, die Speckseite in aller Stille wieder an ihren alten Platz im Rotenturmtor zurück zu bringen. Kein Wunder war es daher, wenn die Bewerber nach und nach seltener wurden und schließlich ganz ausblieben.

Schon hing das seltsame Holzstück fast hundert Jahre droben auf dem Roten Turm, da wagte es ein tapferes Schneiderlein, den Bürgern Wiens zu erklären, daß es sich vor seiner Frau nicht fürchte und stets der Herr im Hause sei. Um dies nun zu bekräftigen, machte sich der mutige Mann erbötig, wenn man es ihm gestatte. Man führte ihn vor den Rat der Stadt, und nachdem es ihm dieser bewilligt hatte, ging es in feierlichem Zuge und unter großem Geleite zum Roten Turm hinab. Dort erwartete den Helden eine gewaltige Volksmenge und blickte auf ihn mit Neugierde. Nun richtete man ihm die Leiter zurecht, damit er zur Speckseite emporsteigen könne. Flink nahm er Sprosse für Sprosse, und während unter ihm die Leute kein Auge von ihm ließen, kam er dem Holzstück immer näher. Doch plötzlich zögerte er, wurde verlegen und nestelte an seinem Wams. Das fiel den zunächst stehenden Leuten sofort auf und sie fragten ihn, warum er denn dies tue.

„Ja", meinte hierauf der wackere Held, "ich habe heute meinen besten Anzug an, und wenn ich ihn beschmutzen möchte, würde meine Frau wohl zürnen!" Das hätte er nicht sagen sollen. Nun war es mit all der Bewunderung der Leute für den mutigen Schneider vorbei und sie brachen in ein so schallendes Gelächter aus, daß ihm ihr Spott und Hohn furchtbar in die Ohren gellte. Beschämt schlich der Prahlhans zur Seite und war bald In der Menge verschwunden. Seither hat es niemand mehr gewagt, das Speckstück vom Turme herabzuholen.

Quelle: Schelme und Narren; Josef Pöttinger; Verlag Ferdinand Ertl Wien; 1941

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