Die Diexbergschlucht

Wilhelm von Haimburg, als der jüngere Sprosse dieses Geschlechtes, war Besitzer der Veste Trixen, während sein älterer Bruder Weriand auf dem Stammschlosse, der Haimburg, saß. Als Wilhelm eines Tages in seinem Gebiete lustwandelte, sah er am Ragnitzbach am Fuße des Diexberges eine Hirtin sitzen, deren Schönheit sofort sein Herz entflammte. Als einfacher Jäger näherte er sich dem Mädchen, das ihn durch unschuldiges Geplauder noch mehr entzückte. Je öfter er das Mädchen sah, um so schwerer fiel ihm der Gedanke an die Kluft aufs Herz, welche zwischen ihm, dem edlen Ritter, und Dietmuthen, der armen Hirtin und Tochter eines Landmanns, gähnte.

Noch hatte es Wilhelm nicht über sich gebracht, dem geliebten Mädchen seinen wirklichen Stand zu gestehen, als ihn die Ritterpflicht zu blutigem Waffentanz rief. In der Diexbergschucht nahm das junge Paar Abschied von einander, bei dem Wilhelm Dietmuthen seine Braut nannte.

Tapfer kämpfte der junge Ritter an der Seite seines Freundes, des Reinprecht von Osterwitz. Als er diesen tödlich verwundet stürzen sah, hieb er wütend auf die Feinde ein, kam dabei aber selbst hart ins Gedränge und wäre verloren gewesen, hätte nicht der Knappe des Osterwitzers mit Gefahr des eigenen Wilhelms Leben gerettet. Wie freudig erstaunte der Ritter, als er, aus tiefer Ohnmacht erwacht, erfuhr, daß sein Retter, Dietrich Schurfmann, seiner geliebten Dietmuthe Bruder sei. –

Während dieser Zeit hatte Dietmuthe Wunderbares erlebt. – Eines Tages, als sie eben wieder die einsame Schlucht aufgesucht, in der sie und Wilhelm das letzte liebe Wort gewechselt hatten, verfiel sie in Schlummer. Da träumte ihr, sie sehe einen Fels aus glänzendem Gestein sich erheben, aus dessen Mitte ein goldenes Tor erglänze. Jetzt öffnete sich auch die Pforte und heraus trat ein Männlein in Kindesgröße, mit greisem Haar und bis zum Gürtel wallendem Barte. Ein weites, gelbliches Gewand, von einem sterngestickten Gürtel gehalten, umfloß die Erscheinung, in deren Rechten ein silberglänzendes Stäbchen ruhte. Dem bebenden Mädchen freundlich winkend, sprach der Zwerg: „Dietmuthe, sei getrost! Ehe zweimal diese Triften grünen, hat sich dein Schicksal freundlich gewendet. Wenn sich von heute an zum zwölftenmale die Mondesscheibe füllt, dann komm‘ hierher, und wo dieses Stäbchen sich zur Erde neigt, wird sie sich öffnen; was in ihr ist, sei dein.“

Mit diesen Worten legte er das Stäbchen in des Mädchens Schoß – dann leuchtete ein Blitz, krachte ein Donnerschlag – und alles war verschwunden. Erschreckt fuhr die Träumerin auf; heller Sonnenschein umgab sie und die Gegend umher sah aus wie immer. – Lange sann Dietmuthe dem seltsamen Traume nach, bis die sinkende Sonne sie an die Heimkehr mahnte; schnell erhob sie sich – da fiel von ihrem Schoß das magische Stäbchen. Als sie es aufhob, sah sie, daß es eine gewöhnliche Wacholderrute sei deren Rinde jedoch einen leichten Glanz verbreitete. Gedankenvoll kehrte Dietmuthe heim, bewahrte das Stäbchen sorgfältig auf und prägte sich den Tag ins Gedächtnis, an dem sie nach des Zwerges Befehl davon Gebrauch machen sollte.

Einige Zeit hernach erkrankte Dietmuthens greiser Vater und fühlte trotz der Tochter treuer Pflege, daß sein Ende herannahe. Vor dem Scheiden übergab er der Weinenden ein Kästchen und befahl ihr, es für den Bruder sorglich zu bewahren.

Inzwischen hatte Wilhelm von Haimburg seinen Lebensretter als Knappen zu sich genommen, betrachtete ihn jedoch mehr als Freund, denn als Diener. Nach Beendigung des Kampfes kehrten die beiden Jünglinge heim, und nun erfuhr Dietmuthe den wahren Stand ihres Bräutigams; zugleich aber entnahm Dietrich aus dem Inhalte des Kästchens, in dem Pergamente und ein Wappenring lagen, daß der beiden Waisen Vater edlen Geschlechtes war. Er hieß mit wahrem Namen Konrad von Rüdingen; ein warmer Anhänger des Herzogs Welf, wurde er nach dessen Sturz in die Acht getan und seiner Güter beraubt; als Landleute verkleidet, hatten er und seine Gattin sich in diese Einöde geflüchtet, in der Dietrich und Dietmuthe geboren und in Armut und Dunkel erzogen wurden.

Wilhelm von Haimburg und Dietrich zogen nun zu Herzog Luitpold, zeigten ihm die Urkunden und erzählten ihm die Geschichte Rüdingens. Der Herzog vergab dem Sohne das Vergehen des Vaters, wollte jedoch nicht, daß dieser den befleckten Namen trage, und vermittelte, daß der Kaiser ihm dafür für sich und seine Nachkommen den Namen „die Waisen“ verlieh. Herzog Luitpold gestattete ihm die Gründung eines Ansitzes in Kärnten und erteilte ihm den Ritterschlag.

Unter all diesen Ereignissen war auch die Zeit herangekommen, welche der Zwerg zur Hebung des Schatzes bestimmt hatte. Dietmuthe erzählte dem Bruder und dem Bräutigam von jenem wunderbaren Ereignis und zeigte ihnen das Wacholderstäbchen. Zu Beginn der Nacht zog Dietmuthe, von Wilhelm und Dietrich begleitet und von einigen Knechten gefolgt, in die Diexbergschlucht und versuchte die Kraft des Stäbchens. Schon hatte sie die Wundergabe vergebens nach verschiedenen Richtungen versucht, als sie an jene Stelle kam, wo sie im Träume das Tor gesehen, aus dem der Zwerg hervorgekommen war. Hier bog sich plötzlich die Spitze des Stäbchens tief zur Erde. Zwar öffnete sich diese nicht von selbst, doch als Wilhelms Knechte ihre Werkzeuge ansetzten, stießen sie alsbald auf ein großes kupfernes Gefäß, das mit Gold- und Silbermünzen bis zum Rande gefüllt war. Dietmuthe teilte ihren Reichtum mit dem Bruder, welcher dafür ein großes Grundeigentum zwischen Mitter- und Obertrixen erwarb , auf dem er eine stattliche Veste erbaute, die er „Waisenburg“ nannte. Im 13. Jahrhundert erlosch das Geschlecht der Waisen; einige Jahre später starben auch die letzten Nachkommen Wilhelms und Dietmuthens.

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Noch vor hundert Jahren war ein gut gearbeitetes Denkmal aus weißem Kalkstein über dem zugtore von Waisenberg zu sehen, welches eine Jungfrau mit einem Wacholderzweig in der Hand darstellte. Später kam es in eine einsame Ecke des neuen Schlosses Mittertrixen.

Quelle: Kärntner Sagen; Franz Pehr; Verlag von Joh. Heyn in Klagenfurt; 1913

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