Die Goldlucke

Wer von Reichraming am linken Ennsufer flußabwärts wandert, kommt nach zwanzig Minuten zu der sogenannten Kainsmauer, in der sich eine enge Höhle befindet, die einstens viel geräumiger war. In dieser ziemlich großen Höhle befanden sich früher viele gleißende Goldzapfen, die von Bergmännlein, die darin wohnten, verfertigt wurden. Heute gibt es in dieser Höhle keine Goldzapfen mehr und auch die Bergmännlein hausen nicht mehr in ihr; sie sind fortgezogen, unbekannt wohin. Das verschuldete ein an den Bergmännlein wortbrüchig gewordener Bauer, wie eine Sage zu erzählen weiß.

Ein Bauer, der ein leidenschaftlicher Jäger war, bekam eines Tages einen kleinen weißen Hirsch zu Gesicht, den er mit Feuereifer auf einen Berghang hinauf verfolgte. Schon war er ihm ganz nahe, als er ihm plötzlich aus dem Gesicht kam. Auf der Suche nach dem Hirsch, kam er zum Eingang einer Höhle, in die er aus Neugierde hineinkroch. Erstaunt sah er sich auf einmal in einem großen hellen Raum, wo funkelnde Goldzapfen von der Decke hingen. Und mitten im Raum sah er den weißen Hirsch, umgeben von Bergmännlein, die das von dem angestrengten Laufe zitternd und ängstlich um sich äugende schöne Waldtier liebevoll umhegten und zu beruhigen suchten.

Als die Bergmänniein des Bauern ansichtig wurden, trat eines dieser altersgrauen, weißbärtigen Männlein auf den Bauern zu und fragte: "Was suchst du in unserem Reiche und was willst du?" Die Bergmänniein können böse und gefährlich sein, wenn ihnen an den Menschen etwas mißfällt, das wußte der Bauer, darum sagte er etwas erschrocken und ängstlich: "Ich habe den weißen Hirsch gejagt, denn ich wollte ihn haben; aber weil ich sehe, daß er euch gehört, so will ich gewiß sein Leben schonen." "Gut", sprach das Männlein und brach einen großen Goldzapfen von der Decke, den es dem Bauern mit den Worten reichte: "Dies gebe ich dir zum Dank dafür; jage aber nie wieder in unserem Bereiche!" Das versprach der Bauer. Als er die Höhle verließ, hörte er den Gesang der Bergmännlein:

"Bauer, jag' das Hirscherl nöt
übers Steigerl, übern Stög,
übers Wasserl, über d'Wänd,
sonst gangerts mit dir zan End."

Der durch die Gabe des Bergmännieins reich gewordene Bauer richtete sich im Rohrbachgraben eine Hammerschmiede ein und brachte es durch Umsicht und Fleiß zu großem Wohlstand. Der Wohlstand aber machte ihn übermütig. Wieder frönte er seiner Leidenschaft, dem Jagen, und vergaß, was er den Männlein versprochen hatte. Er kümmerte sich wenig um sein Geschäft, kam in Schulden und wurde schließlich bettelarm. Das Glück hatte ihn verlassen; sein Reichtum war zergangen wie der Schnee in der Frühlingssonne.

Nun erinnerte er sich des Versprechens, das er den Bergmänniein gegeben und treulos gebrochen hatte. Und trotzdem wollte er in seiner großen Not bei den Bergmännlein Hilfe suchen. Er ging zur Kainsmauer, kroch in die Höhle hinein, kam in den großen Raum, der aber durch ein Bächlein in zwei Hälften geteilt war. Auf seiner Seite war es dämmerig, nackt und kahl die rauhen Wände, drüben aber war es hell und die Goldzapfen funkelten und gleißten. Aber kein Bergmännlein war zu sehen und zu hören. Als er sich anschickte, den Bach zu durchwaten, um sich drüben einen der vielen blinkenden Goldzapfen zu holen, da ertönte auf einmal der Gesang der Bergmännlein:

"Bauer, hast das Hirscherl g'jagt,
Mir ham dir' s guat gnua g' sagt,
Hast's Hirscherl g'jagt über d'Wänd
drum geht' s hirzt mit dir zan End."

Ein fürchterliches Getöse erscholl, der Boden schwankte, es blitzte und krachte, als ob der ganze Höhlenbau zusammenstürze. Der Bach schwoll plötzlich mächtig an und riß den Wortbrüchigen mit in die Tiefe. Tags darauf fand man den Leichtsinnigen tot in den Fluten der Enns. Von der einst großen Höhle ist nur noch das Bruchstück einer Höhle da und wird die "Goldlucke" genannt.

Quelle: Sagen und Legenden von Steyr, Franz Harrer, Verlag Wilhelm Ennsthaler, Steyr, 3. Auflage 1980,
ISBN 3-85068-004-5

© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.

 
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